Fraktale und rekursive Gewalt

Begriffliche Reflexion über die Beschaffenheit der Gewalt, 1. Oktober 2022, von Oliver Krieger

Mimesis bedeutet Nachahmung, Wiederholung. Praktische Paradigmen werden im allgemeinen mimetisch praktiziert, also nachgehamt.

Fraktale entstehen durch Rekursion auf frühere Sequenzen und Positionen. Ein neues Fraktal vollzieht, durch Rekursion, daher eine Art Mimesis vorheriger Muster, aber nicht, weil die Nachahmung vorheriger Muster bezweckt würde, sondern weil die schematisierte Prozedur in variierenden Größenordnungen und unter der Bedingung weiterer Dimensionen, durch eine schematisierende Prozedur höherer, abstrakter Ordnung, bedingt wird.

Eigentlich gilt gleiches auch für die Paradigmatisierung, die Thomas Samuel Kuhn beschrieben hat. Menschen ahmen das Verhalten ihrer Mitmenschen nicht deswegen nach, weil es diesen um das Verhalten im Einzelnen geht, sondern weil die Nachahmung als allgemein nützlich aufgefasst wird. Diese Allgemeinheit mimetischen Nutzens wird normalerweise ignoriert, die Wissenschaft interessiert sich mehr für das empirisch nachweisliche, also für das den Nachahmungen zugrunde liegende Urmuster, die Urpraxis.

Zudem wäre ein Wissenschaftler, der bsp. konstatieren würde, er wende eine methodisch vorbildliche Fabrikations- oder Experimentierungsweise nur deswegen an, weil das Nachahmen im allgemeinen sinnvoll ist, unglaubwürdig, dieser Wissenschaftler würde als blind gegenüber dem unmittelbaren Sinn und Nutzen eines genialen Ansatzes im Einzelnen verstanden werden.

Verbrecher haben es in dieser Hinsicht einfacher. Der psychisch kranke, und perverse Kriminelle, dessen Verbrechen der Nachwelt erscheint wie ein teuflisches Äffen vorheriger Verbrechen, hat weniger Probleme einzugestehen, dass die prinzipelle Nachahmung ihm oder ihr reizvoll erschien. Umso weniger, weil die Paradigmatisierung der traditionellen oder exemplarischen Praxis rechtfertigend erscheint.

Die drei Begriffe Mimesis, Fraktal und Rekursion liegen nahe beieinander. Rekursion bedeutet die Rückkehr zu einem vorherigen Schritt, oder Ansatz, oder Anfangspunkt. Wenn bestimmte antisoziale Konzepte, wie der Antisemitismus, über mehr als 1.000 Jahre hinweg die Menschen motiviert hat, dann sicherlich auch deswegen, weil so viele Menschen die Überlegung, an welchem sozialen Punkt sie mit ihrer überschüssigen, kriminellen Energie ansetzen, anfangen sollten im Zuge der Umsetzung der Opfersuggestion in konkrete Operfung, immer an dieselben, paradigmatischen, hier, antisemitischen Punkte gelangten.

Das Fraktal entsteht, weil im Verlauf der Rekursionen und mimetischen Prozeduren, notwendigerweise ein Veränderung entsteht, die das gesamte Gebilde, welches auch eine Tradition genannt werden könnte, an einen anderen Ort verlegt, und in eine andere Größenordnung versetzt.

Auf größerer Ebene, wie bsp. der einer Nation, wird das paradigmatische Verbrechen und Muster nicht nur deutlicher in seinen Details erkennbar, sondern es erlangt zusätzliche Strukturen, die durch die Größenordnung und den der Mimese inhärenten Mechanismus, oder auch eine bestimmte Formel bedingt ist.

Antisemitische Gewalt und Verbrechen gab es nicht etwa nur bis zum Jahr 1945, und danach nicht mehr, sondern es dauerten diese auch nach dem Holocaust weiter fort, nur eben in viel kleinerer Dimension, und an vielen, vereinzelten, scheinbar unzusammenhängenden Orten, durch viele, persönlich nicht zueinander in Beziehung befindliche Täter.

Die Jurisprudenz und das Strafrecht, und die Kriminologie sind gegenüber den Theorien praktischer Paradigmen, und mimetischer Verhaltensweisen, wie gegenüber Thesen vom Zeitgeist, der bestimmte Verhaltensweisen bedingte, skeptisch, und zurückhaltend, weil durch deren Adaption eine Relativierung der Schuld der Verbrecher bedingt sein könnte.

Es fällt schwer, das fraktale Muster und dessen Wiederholung, die Rückkehr an bestimmte Ansatz- und Anfangspunkte, wie auch die äffische Natur des Menschen, der lieber einmal zu viel nachäfft, als einmal zuwenig, aber auch nachahmt, um praktisch zu lernen, nicht als Zwangsdynamiken aufzufassen, obwohl derlei eigentlich nicht sein müsste.

Menschen sind keine Computer, und was für eine Maschine unvermeidlich ist, wie die Wiederholung einer Kalkulation und Prozedurensequenz, das ist für Menschen durchaus vermeidlich. Letztverantwortung für eigenes Handeln und mimetische Logik, wie in Vendettas und dem ius talionis, schließen einander eigentlich nicht aus.

Die Spiegelstrafen wurden nicht verhängt, weil die durch Spiegelei strafenden Könige nicht anders handeln konnten, also eine Art rationalisierenden, affektiven Zwang zur Wiederholung des Verbrechens am Verbrecher erlitten hätten.

Auch das wissenschaftliche Paradigma wird von den Forschern und Praktikern in freier Volition gewählt, weil es im Einzelnen nachweislich die beste Methode darstellt, sich einem Sachverhalt anzunähern, oder ein bestimmtes Produkt zu fertigen.

Als Beispiele für fraktal rekurrierende Gewalt kollektiven Ausmaße dienen beispielsweise : 
 * Erster und Zweiter Weltkrieg
 * Russische und deutsche Judenverfolgung und Vernichtung von 1900 - 1945 
 * Bosnienkrieg und putinistische Aggression
 * Afghanistankrieg bis 1989 und der Djihad Bin Ladens seit 1996
 * Koreakrieg und Vietnamkrieg
 * Die imperialistische Aggression Chinas im Osten des Landes, insbesondre
 in Tibet und Ostturkestan


Während es sich bei den obig erwähnten Beispielen um Aggressionsphänomene sehr großer, und mehr oder weniger einheitlicher Dimension handelt, so gingen diesen kollektiven Aggressionen und Kriegen vereinzelte, nur scheinbar isolierte Gewalttaten voraus. So ist die Feindschaft zwischen den Rotchinesen und den Uighuren bsp. älter als die USA. Das bedeutet zunächst dass nationalistisch, oder rassistisch bestimmbare Konflikte, man berücksichtigte die beide Male tausendjährige Geschichte der Sklaverei in Afrika und der Judenfeindlichkeit in Europa, nicht auf Einzelereignisse reduziert werden können.

Ein weiteres Beispiel ist die über den Verlauf des Verbrecherlebens bei Wiederholungstätern langsam aber statistisch nachvollziehbar abnehmende Kriminalität. Junge Wiederholungstäter sind die kriminellsten, alte sind es am seltensten.

Ein weiteres Beispiel ist der soziologische Begriff des sozialen Brennpunktes. An bestimmten, geographisch bestimmbaren Orten kommt es häufiger zur Aggression und zum Verbrechen, denn an anderen, weiter entfernten, und es sind, ähnlich fraktalen Mustern, auf Landkarten bestimmte Zentren von krimineller oder politischer Aggression auffindbar, und, durch die Hinzunahme einer temporalen Progression, auch in Gradienten beschreibbar. Darum aber fehlt Kriminalität außerhalb dieser Zentren durchaus nicht, sie rekurriert nur in kleinerem Maßstab, und häufig entsprechend denselben, kulturelle verbreiteten Paradigmen, wie den typischen "drive-by-shootings" oder der Block-Party-Kriminalität in den USA

Der Begriff "Kontext" aber ist, wenn auch an sich richtig, unnötigerweise pauschal, genauso wie der plastische, aber vereinfachende Vergleich mit Naturkatastrophen, wie den in Vorbeben, Hauptbeben und Nachbeben unterteilbaren Phänomenen. Menschliche Aggressivität und Aggression ist komplexer und typischer, und sie hat soziale und politische Ursachen, kulturelle Bedingungen.

Fraktalen Mustern, der Wahrscheinlichkeit ihrer Rekurrenz und ihrer Größenordnung und Komplexität, noch ihrer genauen Form, liegen mathematische Formeln zugrunde. Hierdurch werden Fraktale vorhersagbar, d.h. es fehlt den Fraktalmustern das Moment an Unberechenbarkeit, welches durch den menschlichen Willen entsteht.

Insofern sind Fraktale nicht im reinsten Sinn anwendbar zur Beschreibung menschlichen Aggressionsverhaltens, doch die Hinzufügung chaotischer oder zufälliger Bedingungen in den Fraktalformeln wäre unproblematisch, d.h. es ist kein eigentlicher Mangel der mathematischen Theorie, dass es noch keine fraktalen Modelle zur Beschreibung menschlicher Aggressionen gibt.

Besonders die Projekte zur Schaffung künstlicher Realitäten oder Modellwelten in übergroßen Rechenzentren werden vermutlich früher oder später sich der Fraktalformeln bedienen, um virtualisierte Phänomene kollektiver Aggressivität in ihrer vielfachen Eigenart nachzubilden.

Der Psychologie und den Neurowissenschaften wäre durch die Theorie fraktalförmiger Aggression zumindest eine konkrete Bedingung gegeben, unter der der leidlich elaborierte und induktiv nur begrenzt elaborierbare, noch viel schlechter aber interpersonell und soziologisch verallgemeinerbare Begriff von der "Disposition" eine theoretisch adäquatere Form erhält. 

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